Samstag, 6. Juni 2009

Thuner See - Payerne

Fünf – sechs

Vorbemerkung: Im Gegensatz zu meinen Erwartungen klappt es mit den Internetverbin-dungen nicht zuverlässig. Habt also etwas Geduld, wenn mal der neueste Bericht verspätet kommt. In der Kapelle St. Niklausen im Melchtal ist in den Fresken-registern ein tolles Wunder des Heiligen Nikolaus von Myra (Patron nicht nur der Waisen und der Schiffer, sondern auch der Kaufleute!) dargestellt. Vorbehaltlich weiterer Nachforschungen gelingt es ihm dabei, einen abgetrennten Kopf wieder funktionsfähig (und ohne REHA!) am Rumpf zu befestigen. Dabei trug er als Qualifi-kationsnachweis (Q-Management der höheren Ordnung) lediglich ein langes Gewand (machen die Chirurgen heute auch, haben das vermutlich auf dem Fresko abgeguckt) und einen Hut. Ich fände das sehr apart, wenn die modernen Chirurgen bei der Berufs-ausübung so etwas wie eine Mitra tragen würden oder eine Art Kochmütze (Herr Doktor, es ist angerichtet). Die Juden tragen auf diesen Fresken immer Spitzhüte, egal wie heilig sie sind, z. B. der heilige Joseph. Und sogar die Prophetin Hanna muss einen solchen tragen, weil sie in einer Männerdomäne tätig ist. Erinnert mich an Hatschepsut.
Was ich damit sagen will, ist, dass es vielleicht ein bisschen länger geht, heute, bis man einen gefunden hat, der meinen Kopf wieder an die richtige Stelle klebt und dann kommt noch die dreiwöchige Reha, dann bin ich ja schon wieder fast zuhause ...

Der Tag 5 beginnt mit Sonne, einem Blick auf die im diesigen Grund ruhenden Felsriesen und dem obligatorischen Kuhglockensound, gelegentlich unterbrochen von der schweizerischen Luftwaffe, die hier wohl eine Übungsschneise gefunden hat. Der Gasthof zum Stockhorn hat seine Sache gut gemacht, ein weiches Ei wäre nur noch der Gipfel von Luxus gewesen. Bemerkenswert die Weinkarte, engagiert, wenn auch mit leichten Fehlern. So sind Primitivo und Zinfandel zwar miteinander verwandt, aber nicht identisch (immer diese Besserwisser).
Das Programm beginnt mit der Kirche in Amsoldingen, aber auch der von Pater Dietrich vernachlässigten Kirche von Spiez sollte ich einen Besuch abstatten.
In Thun werde ich den Spiegel reparieren lassen, etwas Geld, Papier und Umschläge besorgen.
Lage und Zustand der Stiftskirche St. Mauritius sind von besonderem Rang. Insbe-sondere der Blick von Osten ist genau so majestätisch wie Worms, Reichsarchitektur! Die Zwerggalerien der großen Dome werden in Form von Nischen nachgebildet. Dazu die Bauhöhe und die Dimensionen in Relation zur Landschaft mit den gewaltige Felstürmen, die im Rund um die Szene stehen. Die Kirche scheint in Verbindung mit dem Schloss und mit der Hochgebirgsszenerie zu stehen. Innen bis auf eine riesige Christoferus-Gestalt kahl, Mauerwerk grau geschlämmt, wird ohne Zweifel ein reformiertes Gepräge erreicht. Die Leute hier finden die Kirche aber als zu katholisch, sagt der wabbelige Rasenmäher-Führer. „D’Lyt wöllet keini Bilder! Aber die Tourischde sin glücklich.“ In der Krypta hat man die römischen Spolien der Säulenschäfte wieder eingesetzt, die Ersatzsäulen liegen im Garten verstreut.
Zum ersten Mal treffe ich richtige Jakobuspilger, zwei Männer aus Feldkirch in Österreich. In der SW-Ecke kann man die Credencials abstempeln. Das hätte ich beim Bruder Klaus auch haben können, habs aber nit geseh. Einer der beiden entnimmt dem Schriftenstand eine Postkarte nach der anderen, legt sie auf den Boden und fotografiert sie ab. Als ich neugierig Anteil an dem Vorgang nehme, bedeutet mir der Kamerad Zurückhaltung, denn aus dem Gesicht des Fotografen spricht schieres Jagdglück. Im recht lockeren Gespräch entsteht bei uns der Eindruck, dass die Jakobuspilgerschaft mit einer Vielzahl von Zugängen und Ausgangslagen beginnt, um aber in einem Ähnlichen zu münden. Beide Männer gehen ausschließlich zu Fuß, immer drei Wochen, haben aber die Gesamtstrecke schon einmal bewältigt. Was soll man von dieser Programmatik halten? Ist das die spirituelle Variante Pfadfinderomantik? Weg von daheim in einen steuerbaren Realtraum? Die landschaftlichen Kulissen als Alleinstellungsmerkmale stehen immer voller kulturschwangeren Kleinmöbeln, irgendwas römisches, romanisches, gotisches und zur Not barockes haben die Reiseführer längst aufs Papier gedruckt. Das organisierte Abenteuer ist sehr kontrolliert, ob die spirituellen ebenso zuverlässig eintreten?
Thun 1: Die Reparatur meines Spiegels ist eine schnelle Sache, neues Gewinde, fertig. Der Mekano zeigt mir wie man den schweren Bock auf den Hauptständer bringt. Die rothaarige junge Frau aber, die alles organisiert hat, die ist ganz fasziniert von Santiago und Pilgern und Sprachen und Geschichte und ... Religion. Darin könnte ich verstärkt aktiv werden: Kulturgeschichtliches Basiswissen attraktiv vermitteln, das könnte eine Marktlücke sein. Das gibt es, aber die jungen Leute gehen da nicht hin.
Mit wiedergewonnener rückwärtiger Sehkraft, zehn Franken, erblicke ich zunächst den bedeutenden Donjon von Thun. So ein Oschi hat auch in Breisach gestanden, neben dem Münster. Ein Wiederaufbau würde der Skyline gut anstehen. In der umtriebigen Innenstadt erhoffe ich mir einen Internetzugang. Nix bei Swisscom, nix bei Manor, nix bei Hotel Alpha.
Wegen der romanischen Kirche von Spiez komme ich zum Tanken und von dort auf die Strasse zum Jaun-Pass. Warum ich nichts zur Kirche sage? Ich habe die Suche abgebrochen, weil ich endlich nach Payerne will.
Was folgt ist ein Fest für Motorradfahrer. Eine Gruppe nach der anderen brummt an mir vorbei. Boller, boller. Meist Zweizylinder mit bulligem Drehmoment. Meine 75 PS machen da locker mit, aber über die Drehzahl. Da brüllt sich doch der Vergaser heiser! Weiter oben wird’s Kühl, ich ziehe was unter die Jacke. Oben auf der Passhöhe hocken die lässigen Biker und trinken breitbeinig mit offenen Kombis Wasser. Schweigend. Auch die Motoren sagen nix.
Fast ganz unten, die Felsgipfel haben sich in den Dunst zurückgezogen, sehe ich eine große Burg. Es ist Gruyère. Tabakpfeifen und Käse. Ich muss dahin. Alle Motorfahrzeuge werden zwangsgeparkt. So empfängt einen, von den asiatischen Horden abgesehen ein großer ovaler Platz, dicht umsäumt von Geschäften und Gastronomie. Jenseits des Tourismusbüros verengt sich das Burgdorf zum Tibetmuseum und dem Musée HR Giger. Auch das dazugehörige Kaffee ist als Innenansicht eines skelettierten Alien eingerichtet. Ich frage die junge Herrin aller Grafik - mindestens SF 198 für ein Blatt aus der Reihe Dune, der Wüstenplanet - nach einem Pilgernachlass. Mehr als Mitleid kann ich ihrem Blick nicht entnehmen. Ich entweiche beschämt.
In die klassisch-schöne Burg weiter oben getraue ich mich nur mit Tarnkappenblick. Ich sehe Tausende von Chinesen, Friede ihren Vorfahren, aber sie sehen mich nicht. Geisterhaft eile ich durch das Gemäuer und den Shop, unfähig, etwas zu kaufen, als Nachweis. Mit letzter Kraft erwerbe ich ein Stück Käse und eine Packung schokoladegefüllte Bricelets. Was das ist, wollt ihr wissen. Nix für Diabetiker! (Es ist eben Viertel-vor-sechs früh, die Bricelets links, der Rotwein rechts. Wahrscheinlich wäre eine warme Milch besser!) Sogar einen Kassenzettel verweigert man mir. War ich nun dort oder nicht? Mein Moped steht unversehrt am Parkplatz. Von Gruyère bis Payerne sind es 30 Kilometer, aber die sind wegen des Engpass Bulle zäh. Ich gehe in ein Postamt und schicke Wiederkehrs und mein Briefchen an Kochs auf die Reise.
Urz vor sechs, lange ich an der Abbatiale von Payerne an. In wenigen Minuten schließt man, sagt mir die herausstürzende Empfangsmaid. Man ist mir aber bei der Suche nach einer Unterkunft behilflich. Dabei kommt die übelste Hotelkaschemme heraus, die man sich denken kann: Verraucht, lärmig, seltsame Gestänke bevölkern die Kubiks ... Dabei stand auch eine Nächtigung im Stroh zur Debatte.
Ich nehme das Zimmer wegen der unglaublichen Präsenz der Bedienung, eine Winzigkeit von Menschlein, mit einem roten Lappen vor der Brust, hinten mit roten Bändeln kreuz und quer gesichert, wodurch der Mittelrumpfspeck sich kundenfreundlich rollt, eine bewegungsfreund-liche Hose ... Um elf lässt sie mir das dritte kleine heraus, der Chef, Fritz, ein Deutschschwweizer, ist jetzt da und entlastet sie. Irgendwer will ihr immer an diese rückwär-tige Befestigungsarchitektur.
Später gelingt es mir, eine Telefonzelle zu finden und Edith anzurufen. Einen Internetzugang habe ich immer noch nicht.
Die Nacht lebt. Es regnet. Seid alle gegrüßt.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen