Samstag, 6. Juni 2009

Thuner See - Payerne

Fünf – sechs

Vorbemerkung: Im Gegensatz zu meinen Erwartungen klappt es mit den Internetverbin-dungen nicht zuverlässig. Habt also etwas Geduld, wenn mal der neueste Bericht verspätet kommt. In der Kapelle St. Niklausen im Melchtal ist in den Fresken-registern ein tolles Wunder des Heiligen Nikolaus von Myra (Patron nicht nur der Waisen und der Schiffer, sondern auch der Kaufleute!) dargestellt. Vorbehaltlich weiterer Nachforschungen gelingt es ihm dabei, einen abgetrennten Kopf wieder funktionsfähig (und ohne REHA!) am Rumpf zu befestigen. Dabei trug er als Qualifi-kationsnachweis (Q-Management der höheren Ordnung) lediglich ein langes Gewand (machen die Chirurgen heute auch, haben das vermutlich auf dem Fresko abgeguckt) und einen Hut. Ich fände das sehr apart, wenn die modernen Chirurgen bei der Berufs-ausübung so etwas wie eine Mitra tragen würden oder eine Art Kochmütze (Herr Doktor, es ist angerichtet). Die Juden tragen auf diesen Fresken immer Spitzhüte, egal wie heilig sie sind, z. B. der heilige Joseph. Und sogar die Prophetin Hanna muss einen solchen tragen, weil sie in einer Männerdomäne tätig ist. Erinnert mich an Hatschepsut.
Was ich damit sagen will, ist, dass es vielleicht ein bisschen länger geht, heute, bis man einen gefunden hat, der meinen Kopf wieder an die richtige Stelle klebt und dann kommt noch die dreiwöchige Reha, dann bin ich ja schon wieder fast zuhause ...

Der Tag 5 beginnt mit Sonne, einem Blick auf die im diesigen Grund ruhenden Felsriesen und dem obligatorischen Kuhglockensound, gelegentlich unterbrochen von der schweizerischen Luftwaffe, die hier wohl eine Übungsschneise gefunden hat. Der Gasthof zum Stockhorn hat seine Sache gut gemacht, ein weiches Ei wäre nur noch der Gipfel von Luxus gewesen. Bemerkenswert die Weinkarte, engagiert, wenn auch mit leichten Fehlern. So sind Primitivo und Zinfandel zwar miteinander verwandt, aber nicht identisch (immer diese Besserwisser).
Das Programm beginnt mit der Kirche in Amsoldingen, aber auch der von Pater Dietrich vernachlässigten Kirche von Spiez sollte ich einen Besuch abstatten.
In Thun werde ich den Spiegel reparieren lassen, etwas Geld, Papier und Umschläge besorgen.
Lage und Zustand der Stiftskirche St. Mauritius sind von besonderem Rang. Insbe-sondere der Blick von Osten ist genau so majestätisch wie Worms, Reichsarchitektur! Die Zwerggalerien der großen Dome werden in Form von Nischen nachgebildet. Dazu die Bauhöhe und die Dimensionen in Relation zur Landschaft mit den gewaltige Felstürmen, die im Rund um die Szene stehen. Die Kirche scheint in Verbindung mit dem Schloss und mit der Hochgebirgsszenerie zu stehen. Innen bis auf eine riesige Christoferus-Gestalt kahl, Mauerwerk grau geschlämmt, wird ohne Zweifel ein reformiertes Gepräge erreicht. Die Leute hier finden die Kirche aber als zu katholisch, sagt der wabbelige Rasenmäher-Führer. „D’Lyt wöllet keini Bilder! Aber die Tourischde sin glücklich.“ In der Krypta hat man die römischen Spolien der Säulenschäfte wieder eingesetzt, die Ersatzsäulen liegen im Garten verstreut.
Zum ersten Mal treffe ich richtige Jakobuspilger, zwei Männer aus Feldkirch in Österreich. In der SW-Ecke kann man die Credencials abstempeln. Das hätte ich beim Bruder Klaus auch haben können, habs aber nit geseh. Einer der beiden entnimmt dem Schriftenstand eine Postkarte nach der anderen, legt sie auf den Boden und fotografiert sie ab. Als ich neugierig Anteil an dem Vorgang nehme, bedeutet mir der Kamerad Zurückhaltung, denn aus dem Gesicht des Fotografen spricht schieres Jagdglück. Im recht lockeren Gespräch entsteht bei uns der Eindruck, dass die Jakobuspilgerschaft mit einer Vielzahl von Zugängen und Ausgangslagen beginnt, um aber in einem Ähnlichen zu münden. Beide Männer gehen ausschließlich zu Fuß, immer drei Wochen, haben aber die Gesamtstrecke schon einmal bewältigt. Was soll man von dieser Programmatik halten? Ist das die spirituelle Variante Pfadfinderomantik? Weg von daheim in einen steuerbaren Realtraum? Die landschaftlichen Kulissen als Alleinstellungsmerkmale stehen immer voller kulturschwangeren Kleinmöbeln, irgendwas römisches, romanisches, gotisches und zur Not barockes haben die Reiseführer längst aufs Papier gedruckt. Das organisierte Abenteuer ist sehr kontrolliert, ob die spirituellen ebenso zuverlässig eintreten?
Thun 1: Die Reparatur meines Spiegels ist eine schnelle Sache, neues Gewinde, fertig. Der Mekano zeigt mir wie man den schweren Bock auf den Hauptständer bringt. Die rothaarige junge Frau aber, die alles organisiert hat, die ist ganz fasziniert von Santiago und Pilgern und Sprachen und Geschichte und ... Religion. Darin könnte ich verstärkt aktiv werden: Kulturgeschichtliches Basiswissen attraktiv vermitteln, das könnte eine Marktlücke sein. Das gibt es, aber die jungen Leute gehen da nicht hin.
Mit wiedergewonnener rückwärtiger Sehkraft, zehn Franken, erblicke ich zunächst den bedeutenden Donjon von Thun. So ein Oschi hat auch in Breisach gestanden, neben dem Münster. Ein Wiederaufbau würde der Skyline gut anstehen. In der umtriebigen Innenstadt erhoffe ich mir einen Internetzugang. Nix bei Swisscom, nix bei Manor, nix bei Hotel Alpha.
Wegen der romanischen Kirche von Spiez komme ich zum Tanken und von dort auf die Strasse zum Jaun-Pass. Warum ich nichts zur Kirche sage? Ich habe die Suche abgebrochen, weil ich endlich nach Payerne will.
Was folgt ist ein Fest für Motorradfahrer. Eine Gruppe nach der anderen brummt an mir vorbei. Boller, boller. Meist Zweizylinder mit bulligem Drehmoment. Meine 75 PS machen da locker mit, aber über die Drehzahl. Da brüllt sich doch der Vergaser heiser! Weiter oben wird’s Kühl, ich ziehe was unter die Jacke. Oben auf der Passhöhe hocken die lässigen Biker und trinken breitbeinig mit offenen Kombis Wasser. Schweigend. Auch die Motoren sagen nix.
Fast ganz unten, die Felsgipfel haben sich in den Dunst zurückgezogen, sehe ich eine große Burg. Es ist Gruyère. Tabakpfeifen und Käse. Ich muss dahin. Alle Motorfahrzeuge werden zwangsgeparkt. So empfängt einen, von den asiatischen Horden abgesehen ein großer ovaler Platz, dicht umsäumt von Geschäften und Gastronomie. Jenseits des Tourismusbüros verengt sich das Burgdorf zum Tibetmuseum und dem Musée HR Giger. Auch das dazugehörige Kaffee ist als Innenansicht eines skelettierten Alien eingerichtet. Ich frage die junge Herrin aller Grafik - mindestens SF 198 für ein Blatt aus der Reihe Dune, der Wüstenplanet - nach einem Pilgernachlass. Mehr als Mitleid kann ich ihrem Blick nicht entnehmen. Ich entweiche beschämt.
In die klassisch-schöne Burg weiter oben getraue ich mich nur mit Tarnkappenblick. Ich sehe Tausende von Chinesen, Friede ihren Vorfahren, aber sie sehen mich nicht. Geisterhaft eile ich durch das Gemäuer und den Shop, unfähig, etwas zu kaufen, als Nachweis. Mit letzter Kraft erwerbe ich ein Stück Käse und eine Packung schokoladegefüllte Bricelets. Was das ist, wollt ihr wissen. Nix für Diabetiker! (Es ist eben Viertel-vor-sechs früh, die Bricelets links, der Rotwein rechts. Wahrscheinlich wäre eine warme Milch besser!) Sogar einen Kassenzettel verweigert man mir. War ich nun dort oder nicht? Mein Moped steht unversehrt am Parkplatz. Von Gruyère bis Payerne sind es 30 Kilometer, aber die sind wegen des Engpass Bulle zäh. Ich gehe in ein Postamt und schicke Wiederkehrs und mein Briefchen an Kochs auf die Reise.
Urz vor sechs, lange ich an der Abbatiale von Payerne an. In wenigen Minuten schließt man, sagt mir die herausstürzende Empfangsmaid. Man ist mir aber bei der Suche nach einer Unterkunft behilflich. Dabei kommt die übelste Hotelkaschemme heraus, die man sich denken kann: Verraucht, lärmig, seltsame Gestänke bevölkern die Kubiks ... Dabei stand auch eine Nächtigung im Stroh zur Debatte.
Ich nehme das Zimmer wegen der unglaublichen Präsenz der Bedienung, eine Winzigkeit von Menschlein, mit einem roten Lappen vor der Brust, hinten mit roten Bändeln kreuz und quer gesichert, wodurch der Mittelrumpfspeck sich kundenfreundlich rollt, eine bewegungsfreund-liche Hose ... Um elf lässt sie mir das dritte kleine heraus, der Chef, Fritz, ein Deutschschwweizer, ist jetzt da und entlastet sie. Irgendwer will ihr immer an diese rückwär-tige Befestigungsarchitektur.
Später gelingt es mir, eine Telefonzelle zu finden und Edith anzurufen. Einen Internetzugang habe ich immer noch nicht.
Die Nacht lebt. Es regnet. Seid alle gegrüßt.

Luzern - Einsiedeln - Thuner See

Vier – sechs

Kurz vor sieben, meinte ich, reicht. Es reicht nicht. Hygiene, gruppenweises Zusammenpa-cken, Frühstücken, Kontakte, Bezahlen ... Beim nächsten Mal werde ich dafür zweieinhalb Stunden vorsehen.
Dennoch: Pünktlich beim Frühstück und sogar fast so pünktlich wie gestern Abend bei Dietrich Wiederkehr. Hier eine kurze, aber starke (!) Viertelstunde mit seinem Reisesegen. Das Moped war schnell gepackt und zu den Dominikanerinnen gefahren. Noch etwas Schreiben, Zimmer aufräumen, dann ab nach Einsiedeln.
Ab sofort bin ich wirklich allein. Keinen Partner, keine Freunde, die abends warten, keine Verabredungen. In Schwyz kaufe ich Fehlendes nach: Lippenfett, Bananen, Elektrolytgetränk, Waschmittel. In meine kleine Kalorien-Meditation fragt mich ein kleiner Junge, ob ich die Muschel selbst gefangen habe und ob das Kreuz schon drauf war. Er hat einen kleinen, schwarzen Motorradhelm auf, so dass zu Wiki nur noch die Hörner fehlen. Der bereits auf dem Motorroller wartende Vater, Babbe, antwortet für mich „der Mann het no e lange Reis vor sich, der faart zum Saint Jacques, eme Bruoder vom liibe Jesus.“ Und nach: „Kennet Sie de Wäg“ bitte ich um die schönste Strecke nach Luzern. „Näämet Sie de Wäg am See entlang.“
Dort treffe ich oberhalb von Weggis ein Biker-Paar aus Stuttgart. Auch sie sind gut informiert über den Camino, stellen aber fest, dass sie einen anderen „Kitzel“ suchen, aber einen späteren Einstieg nicht ausschließen. „Die Pilgerschaft, so meinen beide, ist aber schon recht eine Mode, nicht mehr das ganz Besondere!“ Mir kommt der Gedanke, nach Hause zu fahren und mit Rollerblades noch mal zu starten. Ich teile mit ihnen meine heftigen Wasabi-Erdnüsse, wir fotografieren einander, dann geht’s weiter.
Schnell bin ich vor Luzern, ganz langsam hindurch, dann über den Brünig-Pass zum Thuner See. An einem Aussichtsparkplatz halten nach mir drei Busse mit Japanern. Alles genauso wie man das so hört. Kameras raus, überall hin geguckt, geknipst, gelächelt, rein in den Bus, Abfahrt. Wenn die Landschaft ein Abziehkalender wäre, wäre sie längst verschwunden.
Die Suche nach dem Kirchlein von Einigen gestaltet sich umständlich, zudem beschäftigt mich die Suche nach einem Nachtquartier. Die uralte Kirche der Mutterpfarre der ganzen Gegend hält allen Erwartungen stand. Voll anmutiger Schlichtheit präsentiert sich das querschifflose Gebäude in einem kleinen Friedhofspark fast am See. Die Küsterin kommt und schließt ab, schenkt mir aber noch schnell ein Faltblatt. Ich bitte sie um Hinweise zur Übernachtungsfrage, im auto wartet ihr Mann und wird in die Unterhaltung einbezogen. Dass hier ein Pilgerweg durchgeht, ist ihnen durchaus unbekannt. „Mir sind halt reformierte, mir halde do nit viel defo“. Wimmis und Gwatt scheiden aus, aber in Richtung Amsoldingen finde ich das Gasthaus zum Stockhorn. In der Sonne sitzen zwei junge Frauen beim Abend-essen. Ich will besonders routiniert und sorgfältig absteigen und falle, gopfertoori, wie ein Maikäfer um. Die beiden helfen mir, das Moped aufzustellen. Sie sind in Motorradkleidung! Der linke Spiegel ist abgebrochen, sonst ist alles ok. Aber ich komme mir so saublöd vor. Verdienter Trost: Man hat ein Zimmer für mich. Ich bringe alles nach oben und nehme ein beruhigendes Mahl zu mir, dazu einen Wein aus dem Wallis.
Am späten Abend meine erste Waschnacht. Übernachtung im Gasthaus heißt: Alles ausreizen. Das Waschmittel riecht gut und parfümiert mein Nachtgemach auf das Förderlichste. Derweil die mit allen vorhandenen Tüchern ausgewrungenen Objekte auf Kleiderbügeln die Dusche bevölkern.

Im Melchtal und in Flüeli/Ranft

Drei-sechs

Weil ich zu spät zum Frühstück komme, steht zunächst nur kalter Kaffee auf dem Tisch. Das ändert sich, nachdem ich wieder Zugang zu meinen Sachen habe und mit geordneten Haaren die Bühne der (Kloster-) Welt betrete. Da die Schlüsselverwechslung samt Folgen bei den Schwestern von St. Agnes bislang einzigartig ist, bewohne ich auch für die nächste Nacht zwei Zimmer, eben eins zum Schlafen und eins für den Rest.
Ich telefoniere mit Edith: Walter ist gut an- und zur Vernunft zurückgekommen. Es ist müssig zu bedenken, wie der Abend und die kommenden Tage verlaufen wären, mit den Kirchen, den kleinen Unteretappen, mit den Themen. Wichtig: Wir haben es versucht.
Das Display meiner Camera zeigt zu meiner Verblüffung nur einen gebrochenen Strich. Obwohl ich damit Aufnahmen durch den Sucher machen kann, erwerbe ich eine kleine Nikon neuester Technik in blau. Es ist eigentlich Ediths Camera und nur ausgeliehen!
Schließlich habe ich auch eine Uhr fürs Motorrad, die alte Bergmann mit einer neuen Batterie versorgen lassen. Die beiden Asiatinnen an der Luzerner Nobelmeile, eine Chinesin und eine Kambodjanerin, waren nicht nur freundlich, sondern auch sehr ansehnlich. Nach einem „15 Franken? Geht das für Sie in Ordnung?“ mache ich offensichtlich das richtige Gesicht. Sie macht es für 10 Franken!
Schnelle Einschätzung, schnelles kleineres Geschäft besser als gar keins!
Auf dem Weg zu Foto-Ecker komme ich an mindestens 30 hochkarätigen Uhrengeschäften vorbei. Die neuen Käufer sind vor allem Chinesen! Wer hätte das vor 10 Jahren gedacht!
Um 12 bin ich wieder in St. Agnes, trockne mich ein wenig aus und schreibe noch ein wenig,
Die Caféteria hat mittlerweile geschlossen, der Flüssigkeitsnachschub muss also warten.
Kurz vor zwei ist die Pforte der Kapuziner noch nicht aktiv, aber nach der Aktivierung meiner Maschine kann Dietrich Wiederkehr doch kontaktiert werden. Er kann den Computer-Bruder dazu bewegen, meinen Text in das Blog zu stellen.
Nach einigen weiteren Hinweisen fahre ich an den Sarner See, von dort nach St. Niklausen im Melchtal. Am Fuß des tausendjährigen Turms hat sich eine kleine Familie aus Freiburg niedergelassen. Sie ist in Flüeli untergebracht, aber trotz der einmaligen Landschaft mit den Schweizern übers Kreuz geraten. Was den Touris abgeknöpft wird, so finden sie, ist schamlos. Ich denke mir, dass das in den wohlhabenden Ländern immer so ist. Man kann durch solide Planung diese ärgerlichen Nebenausgaben begrenzen! Ich höre: Besserwisser, du packst ja nicht unter Zeitdruck ...
Die Fresken im Chor der Kapelle wären sensationell, wenn sie noch original wären. So aber hat man die Restaurierung restauriert, der Machart nur teilweise rekonstruiert werden kann. Stilistisch wirken sie sehr homogen und eindrucksvoll. Dank eines sorgfältig gemachten Führers lassen sich die Felder gut zuordnen, Jesus- und Heiligenlegenden leicht interpretieren und einer byzantinischen Tradition zuordnen. Die Farben sind warm und werden durch bedämpfte Fenster nur wenig überstrahlt. Das erleichtert das Fotografieren. Draußen ist es warm, das Gras duftet nach Weite. Von der Weite des Blicks bis an die Schneegipfel hinauf wird einem fast schwindelig.
Auf der anderen Seite beginnt die Ranft, der Lebensraum von Bruder Klaus. Die letzte Strecke zu Zelle und Kapelle geht nur zu Fuß. Für uns heutige fast unglaublich: Die Menschen seiner Zeit, vom Fürsten b9is zum Bettler, grob Anfang 16. Jahrhundert, kamen auf diesem beschwerlichen Weg hierher um Hilfe, Ausgleich, Rat zu finden. Dieser Einsiedler war hervorragend informiert, kannte seine Schweizer und war dank seiner völligen Unabhängigkeit ein großer Helfer.
Das Kirchlein in Flüeli liegt sensationell auf einem Felsen und gestattet einen wundervollen Rundblick hinunter zum Sarner See und hinüber zur St. Niklaus-Kapelle.
Als um sechs der Kiosk schließt, bin ich am Wegfahren und in einer knappen Stunde, schneller als erwartet in St. Agnes. Aufräumen, Duschen, Ordnen, dann zu Fuß zur Hofkirche. Dietrich Wiederkehr ist pünktlich, kommt fesch daher mit Rucksack. Wir kehren ein und nehmen einen feinen Riesling x Silvaner zu uns, der neben Muskatnoten, auch an fränkische Qualitäten erinnert. Wir besprechen unseren Tag, ich zeige die auf den Rechner überspielten Bilder, aber es sind doch immer wieder komplexe Erinnerungen aus der Jugend, die unsere Wege zu Berufung und Beruf, zu Kunst und Literatur, zum Theater, zur Musik verdeutlichen. Wir verspüren Möglichkeiten und Potenziale von Austausch und Beziehung. Unter dem Druck der zeitlichen Begrenztheit skizzieren wir eine Exkursion zu romanischen Kirchen im Elsass ...
Nach dem Abschied trinke ich noch ein Glas unfiltriertes Bier und nehme den Weg nach St. Agnes. Dieses Mal eine geregelte Nacht.

Mittwoch, 3. Juni 2009

Singen – Radolfzell – Schaffhausen - Luzern

zwei - sechs

Schon in der Früh wurstelt Walter im Zimmer nebenan. Kurz nach acht hole ich ihn im Hof zum Frühstück, wo er schon mit der Architektur des neuen Aufbaus beschäftigt ist. Frau Sager, die Hauswirtschaftsleiterin, hat uns eine reiche Pilgertafel bereitet und setzt sich für einige Minuten zu uns. Das ist die richtige Bühne für Walter, der damit herausrückt, dass er nicht weiterfahren wird. Der kraftraubende Trip gestern, Schmerzen und die Angst, dass er sich noch schwerere Schäden zuziehen könnte, sind die Gründe. Das muss ich akzeptieren.
Es dauert bis um Mittag, bis wir alles neu geordnet und verzurrt haben. Er wird die Autobahn nach Stuttgart, Würzburg nehmen. Ich mache mich selbst an die letzten Vorbereitungen zur Abfahrt, stelle den Bericht noch in den Blog – Dank sei Frau Dr. Fander, die auch einen Blick auf die Segnungsszene im Marmelsteiner Hof geworfen hat – gebe die Schlüssel ab, Abschied von Frau Sager, mit der ich nach 19 Jahren zum ersten Mal mehr als höfliche Worte getauscht habe. Sie ist zurecht stolz auf ihre Tochter, die in verantwortlicher Position bei Conti in Mexiko arbeitet und lebt. Und sie freut sich auf den ... Ruhestand.
Ich rufe Heidi, meine Schwester, im benachbarten Radolfzell an. Das Problem Tachowelle muss gelöst werden. Der erste Versuch misslingt, wir fahren zu einer Honda-Fachwerkstatt, wo der Defekt sachgerecht, aber mit unendlicher Gemütlichkeit von einem bejahrten Mechaniker gehoben wird. Dabei wird er von einem weiteren Faktotum scharf beobachtet, welches in sauberem Blaumann gewandet, unverständliche Kommentare brummelt. Und mich Beifall heischend und den kahlen Kopf schwenkend zur Zustimmung auffordert. Nach getaner Arbeit „ferdigg isch no!“ taucht ein jüngerer Mechaniker auf, der mir, „für Jakobspilger mache mers billiger“, 15 Euro abknöpft. Billig denke ich mir, 3 Männer und Anhang mit einer halben Stunde für Wochen ernährt. Prima Tatsache: Ich weiß wieder, wie schnell ich fahre.
Mittlerweile hat Heidi in ihrem Garten einen Salat gepflückt und ein Ei abgekocht. Wir setzen uns auf den neuen Balkon, ich esse und trinke dazu Rooibush-Tee mit Stevia. Die grünen Blättchen kann man wie Kaugummi ankauen und so das Getränk süßen. Schmeckt gut, ohne Kalorien und ohne den Beigeschmack der getrockneten Variation. Wir reden über meine Absicht, unsern Bruder Reiner in Portugal zu besuchen. Wenn ich es nicht versuchen würde, so wird mir klar, würde ich mir das Unterlassen bis an mein Lebensende vorwerfen. Blut ist ein dicker Saft.
Ich nehme die Autobahn über Schaffhausen, dann eine mühsame und schleppende Fahrt über kleinere Strassen nach Luzern. Gegen sieben bin ich bei den Kapuzinern, werde überaus freundlich empfangen und binnen Minuten erscheint Pater Professor Dr. Dietrich Wiederkehr,
Fundamentaltheologe em.
Wir versorgen das Motorrad, nehmen das wichtigste mit, ordnen meine Unterkunft in St. Agnes bei den Dominikanerinnen und bekommen die Schlüssel. Man hat uns erst morgen erwartet, aber die Zimmer waren schon gerichtet.
Zusammen gehen wir einen wunderschönen Weg in das Luzerner Zentrum hinunter, mit gelegentlicher Aussicht auf den See und den dahinter sich auftürmenden Pilatus. Auf dem Friedhof der zweitürmigen Hofkirche sind Berühmtheiten beerdigt, darunter Otto Karrer und Hans Urs Kardinal von Balthasar.
Am Fuß der majestätischen Treppe sitzen wir, genießen das Bier und bauen an der jungen Bekanntschaft. Der Themenbogen umfasst viel biographisches, Landesgeschichte, den Jakobsweg, viel Leid und einige Freud an unserer Kirchenführung, kirchliche Strukturen im Vergleich, vor allem Romanik und die Planung des morgigen Tages: St. Gallen kommt später, aber Sarnen und Ranft müssen sein. Am Donnerstag folgen Romainmôtier, St. Pierre de Clages, Payerne und der Thuner See.
Irgendwann kommt der Moment, wo sich die Dietriche Dietrich sind. Das passt zusammen und ich freue mich, wenn wir wieder einmal mit Kochs zusammen sind. Pater Wiederkehr ist nicht einfach ein Hochschultheologe, sondern eine herausragendes Beispiel für eine autarke Position zwischen den Zeiten. Die beiden Schlüsselqualifikationen Auto und Computer selbst nicht nutzend – ohne sie zu verachten – werden die „untergehenden“ Bahn und Schreibmaschine bis in die letzten Verästelungen ausgereizt. Um dasselbe zu erreichen, muss man neben hoher Intelligenz ein Übermaß organisatorischer Fähigkeiten besitzen. Während das Thema Auto nicht mehr attraktiv genug ist, scheint doch der Computer und seine Möglichkeiten die Neugier des wahren Wissenschaftlers zu reizen. Da kommt noch was.
Um elf liefert Pater Dietrich den Gast bei St. Agnes ab.
Weil wir die Schlüssel vertauscht haben, komme ich nicht an meine Sachen. Eine französisch sprechende Schwester sieht noch fern, aber auch sie ist erfolglos. Deshalb schlafe mit ohne nix nebenan in „Walters“ Zimmer.

Dienstag, 2. Juni 2009

Würzburg - Schwarzenau - Singen

Pfingstmontag.

Draußen geben die benachbarten Vögel das perfekte Frühkonzert. Es ist leicht bewölkt und etwas grau. Angenehm kühl.
Alle Koffer und die anderen Reiseobjekte so auf dem Moped zu befestigen, dass sie nicht nur ihre Position behalten, sondern auch meine Beweglichkeit und die Fahreigenschaften des Fahrzeugs nicht zu sehr beeinträchtigen, kostet eine halbe Stunde Verspätung. Schon bei der Fahrt nach Schwarzenau spüre ich, dass das Heck ein bisschen schwänzelt. In Schwarzenau löst sich meine Beschämung über die Verspätung allerdings in Wohlgefallen auf. Dort nimmt ein wahrer Volksauflauf teil an der spektakulären Reisearchitektur, die Walter auf seine Maschine gebacken hat.
Abschied, Abschied. Mir steckt ein dicker Kloß im Hals, ich denke, das geht anderen genau so. Um elf sind wir auf dem Weg nach Rothenburg, wo wir St. Jakob anfahren wollen. Walter fährt allerdings grandios an der Ausfahrt vorbei, weil ich meine Führungsarbeit vernachlässigt habe. Zu sehr war ich damit beschäftigt, zu beobachten, ob die verzurrte Pyramide auf Walters Hinterrad stabil bleibt. Immerhin eine Stunde eingeholt. Auf nach Ellwangen und Hohenberg. Das Schloss ist in sehr gutem Zustand, mit Bauteilen aus allen Jahrhunderten, aber jetzt am Mittag nur schwach besucht, sodass wir uns Platz und Zeit nehmen, die letzten Stunden zu kommentieren. Beim Zurücksetzen rutscht Walters rechter Fuß auf dem feinen Schottergrund aus und die ganze Mensch-Maschine-Singularität kippt nach rechts um. Zwei Männer eilen hinzu, ich steige wieder ab und zu viert kriegen wir die halbe Tonne wieder in die Senkrechte. Der Turm hat sich zwar leicht noch weiter von der Achse entfernt, ist aber fest geblieben. (Beifall beim Publikum!) Da die Maschine keinen Hauptständer hat, kann eine gewisse Symmetrie der Last nur geahnt werden. Beim Überfahren der Kopfstein-Bodenwellen in der Vorburg kann ich mir Walters Gefühle gut vorstellen, er leistet jetzt Schwerarbeit. Wir tanken, und wenig später kommen wir bei St. Jakob auf dem Hohenberg an. Von jetzt an ist die Wahl des richtigen Parkplatzes mitzubedenken. In der Mitte des Parkplatzes steht eine Bronzeplastik, die zwei Santiagopilger zeigt. Ein willkommenes Motiv, über das wir mit einem großen Mann mit alter Mutter ins Gespräch kommen. Walter kommt immer wieder mit Menschen in Kontakt, die fassungslos sehen, wie man auf einem Motorrad den Inhalt eines Caravans zusammenschnürt. Aber ich sage Euch, der Preis ist hoch. Die Fahreigenschaften der Trude (Kosename für eine Suzi Intruder) sind flöten gegangen und der Start wird jedes Mal zum Abenteuer. Außerdem zieht das Ganze unbewusst Kraft aus dem Körper.
Wir besichtigen im Schnellgang die Kirche, bewundern die Lage in der Landschaft, gehen in der Pilgerherberge aufs Klo, gewinnen die Autobahn und durchfahren Ulm, wenn auch etwas unorthodox. Walter ist dafür, Essen und Trinken auf den Abend zu schieben. Wir werden sehen, ob das die richtige Strategie ist.
Die Fahrt durch Oberschwaben zieht sich hin. Eine Umleitung führt uns über Sigmaringen. Am Ortsrand bleibe ich mal stehen, um Walter wieder auffahren zu lassen. Das Fahrtempo liegt jetzt sehr niedrig. Vor mir am Straßenrand sehe ich drei Münzen glänzen. Ich hebe sie auf und sehe im Gras weiteres Geld. Alles 50 Cent-Münzen. Ich gehe Walter entgegen, der sich hundert Meter weiter aufgebaut hat und berichte. Ungläubig aber mit wärmender Begeisterung klauben wir insgesamt 52 Euro aus dem Gras heraus. Wir können uns nur schwer beruhigen.
Die Trude braucht Sprit. Weil wir weit und breit keine Tankstelle finden, bleibt Walter nur der Ersatztank. Bei mir löst sich am Tacho die Welle und schleift am Boden mit. Morgen werde ich in die Werkstatt müssen.
Die Verabredung mit Adelheid geht schief, wir können sie nicht verständigen.. Um neun herum kommen wir in Singen an. Eigentlich sind wir zufrieden. Das Katastrophenmanagement funktioniert grundsätzlich und Walters mitgebrachtes tschechisches Bier schmeckt gigantisch. Telefonate, Telefonate.
Wir montieren das gesamte Gepäck herunter. Morgen muss es neu aufgebaut werden. Wir ratschen noch ein paar Minuten, dann ...