einsundzwanzig – sechs
Sonntag! Um sieben stoße ich die eisernen Faltläden auf. Über das trostlose Hotelhinterleben mit den Bahngeleisen und den immerwährenden Straßengeräuschechos, die von allen Seiten kommen, hat sich ein strahlender Sonntagshimmel gelegt. Ich beschließe: Lourdes angucken und sehen, wie ich mich in die Gavarnie, den Pyrenäenzirkus bewegen kann. Zuvor aber doch anderes:
Anmerkungen zum französischen Frühstück, Sonntag, 8 Uhr 15 (comédie tragique, Entwurf)
Die Frage nach dem Getränk läuft immer auf schwarzen Kaffee mit etwas Milch hinaus. Also:
Die Requisite hat auf dem Tischlein eine große braune Tasse samt Untertasse und dazwischen eingezirkelter Papierserviette abgestellt. Dazu ein verchromter Untersetzer (Blechschmiedekunst Jugendstil), ein Schnapsglas mit pürierter Pflaumenkonfitüre und ein 10 Gramm Butterstückchen. Ein Kaffeelöffel bei der Konfitüre, ein Messer bei der Tasse.
Maître d’hôtel (mh, Besitzerin, sehr aufgeräumte Mittsechzigerin, unaufgeregte, absolute Autorität): Bonjour, Monsieur! Was möchten Sie trinken? Schwarzen Kaffee? Wie immer?
Gast: Ich ziehe sonntags eine tisane (so etwas wie z. B. Lindenblütentee) vor, etwas leichtes, bitte, ohne Milch. Und hätten Sie mir zur Feier des Tages vielleicht ein weiches Ei?! Bitte, Madame, es ist doch Sonntag, Madame.
(Das Ausrufezeichen erspare ich mir, weil durch das Aussprechen des utopischen Wunsches der Druck auf die Geschmackspapillen bereits nachgelassen hat.)
Gast lächelt etwas blöde und mit wässerndem Auge.
mh: Recht gerne, haben Sie sonst noch einen Wunsch?
Gast: Nein, damit könnten Sie mich glücklich machen!
mh verschwindet hinter Klapptüre.
Gast nimmt Tasse und Teller auseinander für das zu erwartende Brot oder Kuchen.
mh kommt augenblicklich wieder dahinter hervor.
mh (mit lockerer Handhaltung, so als wollte Sie einem wenig geschätzten Kollegen zeigen, wo die Türe ist): Da fällt mir ein, Monsieur, dass uns gestern die sachets de tisane ausgegangen sind. Hat Ihnen der Kaffee gestern nicht zugesagt?
Ihre Stimme bekommt eine nicht identifizierbare, dennoch schärfere Färbung, das Kinn hebt sich leicht. Und mit einer müde wirkenden Handgeste auf ein ordentlich gerahmtes Textbild in Helvetica Bold, 50 Punkt.(Text, deutsch: Den verehrten Pensionsgaesten wird unterbreitet, dass jede Aenderung der Vereinbarungen zusaetzliche Kosten verursacht.)
Und, Monsieur, bitte sehr, Sonderwünsche müssen wir gesondert berechnen, wollen Sie auf dem Ei bestehen? Eier dürfen nach der französischen Rechtslage nur hart gekocht dem Gast verabreicht werden. Und bedenken Sie, Monsieur, la cholesterine!
mh bekommt etwas verschwörerisches in die fein ziselierten Linien des einst so ... Gesichts.
Überall ist dieses Zeug drin wenn man alles zusammenrechnet ist man in der Woche zwanzig Eier und mehr dabei soll man nur höchstens zwei nehmen damit man gesund bleibt. Ich sehe Sie gerne hier, aber finden sie nicht, wenn man die Wahl hätte ...
mh ab hinter die Schwingklappe.
Erscheint sofort wieder.
mh: Mein Haus ist untröstlich, aber die bestellten Eier kommen erst gegen Mittag.
Ein anderer Gast, es sind deren etwa ein Dutzend (zusammen um die Tausend Jahre alt) schattenhaft vergegenwärtigt, wagt ein akustisches Zeichen:
Anderer Gast: Mada ...
mh (zuckrig): Je ne pense qu’à vous, Monsieur.
mh zu Gast (zwischen den Zähnen) : Würden Sie sich, Monsieur, bitte entscheiden ... Meine (Lebens-) Zeit ist beschränkt und ich habe noch andere Gäste.
mh nimmt das Messer vom Teller und stellt den Originalzustand wieder her.
Gast resigniert: Bitte, Madame, ich überlasse Ihnen mein Leben. Tun Sie, was Sie für gut halten.
mh: Schämen Sie sich, das ist eine ernste Sache, darüber macht man sich nicht lustig. Die Menschen kommen hier her nach Lourdes, weil sie in Not sind und da kommen Sie und wollen ein weiches Ei.
Enteilt in die Küche und bringt ein Körbchen mit 1 Croissant, 3 kleinen Baguettescheiben und 2 Zwiebacks,1 Kännchen ganz schwarzen Kaffee und 1 putziges Kännchen mit warmer H-Milch.
In der kleinen Pause hat der Gast Tasse und Teller wieder auseinandergenommen. In der Tasse befinden sich zwei (mitgebrachte) Tabletten Süssstoff.
mh (kommt vorbei, beglückt, wie es scheint, sieht den Suessstoff in der Tasse): Sind Monsieur zufrieden. Oh, verzeihen Sie die Unaufmerksamkeit, ich bringe Ihnen eine frische Tasse.
Nimmt mit Schwung die Tasse und stellt Sekunden danach eine frische Tasse auf den Teller, wo sie ja hingehört.
Der Gast vermutet nicht zu Unrecht, dass die Süßstofftabletten gesammelt und bei Nachfrage verabreicht werden.
Der Gast schlürft den grauen Sud, vereinigt angesichts der völligen Niederlage lustlos Konfitüre mit Butter und Baguette, zerrupft das Croissant und entschwindet ins Zimmer, wo er noch etwas dunkles Brot, Roquefort, Schinken, Orangen mit Ingwer- Konfitüre und eine halbe Flasche Rotwein gebunkert hat. Dann kann der Sonntag beginnen.
Bei Weltgerichtsszenen auf den Tümpanönern mittelalterlicher Kathedralen sind zur Linken des Wiederkommenden die Verdammten dargestellt, die Quälgeister und der Namenlose selbst. Dort meine ich auch immer zwieder mh zu erkennen. Um das möglichst lange zu genießen, hole ich mir beim naechsten Mal aus der Kirche einen Stuhl.
Es ist kurz vor zehn, draußen tobt ein Hupkonzert. Vor meiner Zimmertüre toben die Reinemachefrauen mit Staubsaugern und Schlüsseln. Ich warte auf einen vorbeifahrenden Zug.
Lourdes ist sehr geschäftig, etwas dreckig, noch nicht ganz in der Zeit angekommen. Die Einrichtungen des Wallfahrtsbetriebs dagegen schon. Moderne Architektur, dahinter tüchtige Infrastruktur, um die Menschen der Weltkirche zu betreuen. Unglaublich viel ehrenamtliches Engagement wird mitgebracht. Ich habe deutsche Betreuer gefragt. Sie bekommen die Fahrt und die Unterkunft in Gemeinschaftsquartieren. Manche bezahlen einen Beitrag fürs Essen.
Unter dem grossen gruen-gelben Fleck auf dem Foto befindet sich eine unterirdische Kirche, die 22000 Menschen fasst.
Die Festung ist ein Muss! Die Aufbereitung als Museum ist fürchterlich, aber die Exponate zum Thema Ethnologie der Pyrenäen lohnen die 5 Euro.
Ein bisschen weiter unten gibt es ein Marokanisches Restaurant „Fantasie“, wo ich mir einen sehr gelungenen Couscous Royale einverleibt habe. Abends, versteht sich, und vor der Prozession.
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