zwanzig – sechs
Abschied von Mélaine, Pierrot und Louka
Bei meinen Gastgebern in der rue des Jacobins werden die Menschen ausgeräumt. Zuerst geht Philippe Bontemps, Mitschläfer, Vater von drei Söhnen, mit prächtigem Körperbau, so um die 45, aus dem Norden (Aisne). Er zeigt mir seine Operationsnarben. Über Schenkel und Hintern in den Rücken hinein eine Geheimkarte der Anatomie. Sieht aus wie die Schnittmuster bei den Metzgern, Schweine, Schafe, Rinder. Die beiden älteren Söhne sind selbständig und irgendwie versorgt, um sie macht er sich keine Sorgen. Gerne hätte er gesehen, dass auch sein Jüngster was ordentliches macht. Der hat aber keine Lust selbst zu arbeiten, kriegt über vierhundert € Sozialhilfe pro Monat. Dafür schafft die schwarze Freundin, den Rest darf man sich ausmalen, was sie tut. Als er geht, wünsche ich ihm bon chemin! Ultreja! (sprich: ültreia!), er grinsend: à toi aussi, Nutella! (sprich: nüteia!) Aldous Huxley hat mit Ford sei Dank eine ähnliche Konstruktion gewagt! Vielleicht trägt die Kombination aus beidem dazu bei, dass sein Jüngster doch noch auf die Reihe kommt. En tout cas: Allzeit gut Nutella! Damit liesse sich mancher Frust niederringen!
Die beiden Elsässer aus Mühlhouse sind die nächsten. Die beiden Männer wandern seit vielen Jahren zusammen und haben sich den Weg vorgenommen, weil sie die vorhandene Infrastruktur schätzen. Sie gehen diejenigen Abschnitte, die im Rother-Guide als landschaftlich reizvoll beschrieben werden. Von Kirchen und Kultur wollen sie nichts wissen und wollen auch keine Zeit damit vergeuden. Ordentlich schwitzen und den lebendigen Körper spüren. Warum dann einen Pilgerweg?
Die vorletzten sind Opa (78), Sohn (40) und Neffe/Enkel (22) aus der Gegend von Narbonne . Der Sohn ist Véganer (überhaupt treffe ich auffallend viele davon auf dem Weg!), weil die Mutter Haustiere geschlachtet hat, die er liebte, Hasen, vor allem. Iss nichts, was Augen hat, ist seine Devise. Damit habe ich auch schon geflirtet. Sie sind die ersten, die eine weltanschauliche Motivation haben und ihr religiöses Interesse auch mitteilen. Der Sohn ist areligiös, geht aber mit, weil er für den Vater die Last mitträgt, ebenso wie der Enkel. An ihm reiben sich die beiden anderen. Als ich die drei beim Pont de Valentré noch einmal treffe, machen sie nur eine Fotopause, um danach über die Frage weiter zu streiten, ob Wanderschaft und Gottesglaube sich einander bedingen. Für den Fall, dass er ernsthaft befürchten müsse, bei der Pilgerschaft gläubig zu werden, würde lieber wieder heimfahren. Meint der Sohn, aber wer trägt dann den Rucksack!
Der Letzte bin ich. Fotos, Küsschen, Abfahrt. Zum ersten Mal bin ich nicht schweißgebadet. Hab ich was richtig gemacht? Faengt der Weg an, sich bei mir auszuwirken?
Pierrot öffnet das Hoftor. En route!
Knapp zwei Stunden später stelle ich das Moped in Lauzerte, einer märchenhaften, mittelalterlich wirkenden Bergstadt ab. Eines der schönsten Dörfer Frankreichs! Es ist Markttag.
Überall englische Touristen. Ich erwerbe ein Schälchen gelbe und rote Himbeeren, mit ein paar schwarzen Kirschen und Brombeeren. Die Frau bittet mich, das Schälchen zurückzubringen, wenn es leer ist. Etwas weiter verkauft eine junge, sehr aparte Frau selbstgebackenes Kastenbrot aus Vollkornmehlen. Auf den ersten Blick ähnelt sie Anne, in Größe und Raumbedarf, aber das Gesicht hat etwas unbestimmt-südliches, und doch kühles, was vielleicht eher seelische Ursprünge hat. In meinem Roman ist ihr Mann ein Hanswurst und kann allenfalls zu gelegentlicher Verzweiflungsarbeit überredet werden. Die Kinder werden von der Nachbarin beaufsichtigt, die selber in ähnlicher Not ist. Sie schneidet meinen halben Kasten gleich in Scheiben. Das passt. Im Café du Commerce entdeckt man des Pudels Kern. Das Städtchen war mal englisch besetzt und ist auch heute noch fest in englischer Hand.
Wenn man einen Café nimmt kriegt man auf Nachfrage eine Codenummer und kann sich in einen Hotspot einklinken und kostenfrei surfen. Bei meinem Moped ist unterdessen ein großer Auflauf. Eine Frau (von mir eigenäugig beobachtet) hat ihr Auto so hingestellt, dass es eine Toreinfahrt blockiert, in der ein Auto mit abfahrwilliger Fahrerin steht. Obwohl man das nicht verschlossene Auto hin und herschiebt, kommt nicht die notwendige Lücke zustande.
Schließlich treibt man den Fahrer des Vorderautos auf, der fährt weg und ich parke dann das Deliktwägelchen in den Blumen eines Gärtnerladens. Die Menschentraube zerstreut sich. Ich habe etwas für den Ruhm des Vaterlandes getan. Beim Wegfahren erscheint seelenruhig die Delinquentin, eine hübsch verpackte Vierzigerin, besteigt das Vehikel und braust davon. Niemand ist mehr da, der sich dafuer interessiert.
Dann Moissac. Bis 14 Uhr will ich bleiben, weil ich den Stempel im Credencial haben will. Es ist richtig warm geworden, ich packe an einer Parkbank mein Essen aus, als sich ein Mann um die vierzig vor mir aufbaut und sagt: Ich habe die Muschel auf Ihrem Rucksack gesehen! Es ist Svend aus Bergisch-Gladbach. Er ist in Le Puy aufgebrochen und hat trotz seiner guten Physis Schwierigkeiten mit einem Knie. Wir diskutieren, was man machen kann. Der Weg erzeugt Herausforderungen, die jeder auf seine Weise beantwortet. Auf jeden Fall so scheint mir hat die Körperorientierung gegenüber der spirituellen oder juristisch-sozialen heute einen höheren Stellenwert als früher. Es könnte aber auch sein, dass der Weg einer Art horizontalem Bergsteigen gleichkommt. Am Gipfel ankommen erzeugt auch eine fast mystische Verfas-sung. Die organisatorischen Vorzüge meiner Kombination von Fußwanderung und Motorrad-reise gefallen meinem Gesprächspartner, ebenso die Überlegungen zu Reisepartner-schaft und Einstellungsfragen. Ein anderes Thema ist dieses allein gehen und abends Leute treffen. Die Paare, die ich getroffen habe, gehen zwar zusammen, es gibt aber oft unterschiedliche Meinungen darüber, ob das gut ist. Wenn ich als Arbeitshypo-these unterscheiden möchte, dann ist Pilgern eine individuelle Weg-Gehe-Form, Wallfahren eine soziale Übung. Die Zweier-Form hat beides, aber nicht in optimaler Weise. Es gibt auch eine Entsprechung im Zen. Der Denkweg der Koans ähnelt dem Denken beim Pilgerwandern. Der einmal gewonnene Rhythmus lässt das Bewusstsein schon mal leer laufen! Die Befreiung vom bewussten Vorhandensein des Ich ist sehr wohltuend und erholsam.
Aber das sind Dinge, die wir nicht besprochen haben.
Svend bleibt im Gîte, um zwei bekomme ich meinen Stempel und reise in Richtung Lourdes ab, wo ich kurz vor sieben ankomme. Unweit von Grotte und Platz finde ich ein Hotel und bezahle für zwei Übernachtungen. Das Moped kann ich in einer ueberaus komischen Szene am Hotel abstellen, die Inhaberin selbst bestimmt die Abstaende zu Haus und anderen Autos auf den Millimeter, indem sie groteske Spruenge mit zusammen-gekniffenen Augen kombiniert (s. auch Anmerkungen zum Fruehstueck).
Nach dem Abendessen beginnt wie jeden Abend eine Lichterprozession, an der ich teilnehme: Als Mitglied der Gruppe des Bayrischen Pilgerbüros, auf die ich genau zugehe. Was ich da erlebe, muss ich noch verarbeiten. Ich trage, den Rosenkranz mitbetend und mitsingend, einer namenlos gütigen Vermittlerin meine Anliegen vor und hoffe, dass es neben dem Dienstweg noch andere effiziente Kanäle für solche Dinge gibt. Zwei Frauen aus Lengfeld bei Marktheidenfeld nehmen sich meiner an und erklären mir alles, was man wissen muss.
Edith ist zuhause, hört ein bisschen mit. Ich besuche die Grotte und bin um elf im Bett.
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