Sechs – sechs
Der schlechten Optik, den Gerüchen und meinen Ängsten um die Verdoppelung meines Mopeds zum Trotz war es eine erholsame Nacht. Das Frühstück habe ich bei der Bäckerei gegenüber bekommen und schlussendlich gab es einen Internetladen um die Ecke. Entlastet von diesen Notwendigkeiten, alles packfertig im Zimmer, habe ich mir dann die Klosterkirche ausführlich angeschaut. Das Mädel von gestern Abend empfängt mich mit strahlenden Augen,
was sie aber nicht hindert, mir beim Eintritt in die „Expo“ (Bilder einer Malerin ohne Arme) streng nach Vorschrift den Fotoapparat abzunehmen.
Aufbruch um die Mittagszeit. Das Wetter ist wechselhaft, kräftige Böen aus allen Richtungen. Um voranzukommen nehme ich zunächst die Autobahn nach Lausanne. Jenseits von 90 KMH ist mir mulmig, nur in den Tunneln kann ich entspannen.
Eine kleine Pause in dem lieblichen Burgstädtchen Orbe. Eine Gruppe grün-bebluster Schulkinder besteigt den Brunnen, weil sie das dort vorhandene Trinkwasser kosten müssen. In die anschließende Ruhe hinein donnert eine Harley heran, von der ein unglaublich dicker Mann mit einem ganz kleinen Helm herunterrollt. Dann baut er sich mitten auf der Strasse auf, zieht eine kleine Kamera aus der Kombi, geht auf ein sich eng vereinigendes Pärchen am Brunnen zu, streckt die Kamera hin, sagt wohl auch etwas. Das Mädchen wehrt unwillig ab. Der Koloss kommt auf mich zu. Gleiche Gestik, auch ich wehre ab. Wir sind die einzigen. Er dreht ab, vereinigt sich wieder mit seinem Gefährt und brüllt davon. Das Mädchen unterbricht die aktuelle Kusssequenz, guckt zu mir und hebt den linken Daumen. Wir sind zufrieden.
Wenig später fahre ich in Romainmôtier ein. Das Dorf liegt zwischen Hang und Bach, alles eng beieinander. Heute ist Fête de la Rose, Pflanzenverkaufstag mit regionalen Angeboten. Es fällt mir schwer, keine Konfitüre zu kaufen. Sündhafte 15 SF pro 250 gr, aber die wenigen Kostproben waren gigantisch: Heidelbeeren in Kokosmilch mit etwas Rum. Keine Ahnung, wann man das isst, frühstücksmäßig ist die Westschweiz ganz französisch, Entwicklungsland.
Ich trinke noch ein bitteres, unfiltriertes Landbier und entweiche zur Klosterkirche. Über das grßartige Payerne und Romainmôtier findet man alles in den Kunstgeschichten. Der Tourismus hält sich Grenzen, zu sehr dominiert die Architektur. Es verbleibt eine einzigartige Atmosphäre der Ruhe eines Kraftortes.
Eine gute halbe Stunde später, es geht auf vier zu, steige ich beim Château Rolle am Genfer See von der Maschine. Gerne hätte ich auch das bei Montreux liegende Chillon besucht, liegt abeer in der verkehrten Richtung. So ist leider auch St. Pierre de Clages gefallen, Pater Dietrich möge mir verzeihen. Zum Trost lecke ich jetzt ein Cassis-Eis und wandle um das ehemalige Wasserschloss mit seinen vier dicken Türmen herum. Dahinter lärmt das Publikum eines kleinen Wanderzirkus’.
An der Straße nach Genf häufen sich Weingüter und Schlösser mit Bauten aus dem 19. Jahrhundert. Für die Durchfahrt von Genf brauche über zwei Stunden, mit Regenpausen und Suche nach Kathedrale und Jakobsmuschel am Haus 21 am Platz ...
Auch die Ausfahrt nach Frangy/Haute Savoie ist nicht leicht zu finden. Und so komme ich nach zehn dort an, ich bekomme ein Bett im Hotel Moderne, nach der Schinderei, meine Sachen in den zweiten Stock zu tragen, ein Bier und ein Gläschen Côte du Rhône. Drei Männer stehen an der Theke. Zwei Langzeitarbeitslose und ein Glockentriebwerksmechaniker, ein Korse, der viel herumkommt zu den Kirchen, der Gegend und im Auftrag des Staates die Werke wartet. Er ist strenger Atheist, redet aber fromm drum herum und berichtet, dass viele Leute die Ziviltaufe (baptème civil) der kirchlichen Taufe vorziehen. Das ist viel billiger, geht schneller und das ganze Brimborium entfällt, mit Wasser und so. Ein anderer, der durch Gewitztheit das größte moderne Haus in Frangy besitzt, muss ein genialer Schnorrer sein, er liebt die religiösen Feste wegen ihrer sozialen Bedeutung und weil man da wieder mal alle trifft, die das eigene Leben begleiten. Der dritte, viel zu schwer, leidet an massiven Hüftbeschwerden. Statt mit dem Fasten sofort zu beginnen, stopft er sich mit der Anti-Stress-Schokolade des Wirts voll. Ich bringe noch den Rest meiner Bricelets aus Gruyère herunter, die ihm auch gut schmecken. Er ist „massvoll“ (modéré) religiös und meint, die richtigen Probleme sollen die Frauen lösen. Die müssen das Festessen kochen und alles organisieren an Ostern und Pfingschden und am 15. August die Kühltaschen für das PiqueNique richten. Und wenn’s nicht klappt, dann kriegen sie eine Maulschelle. Das hält wieder eine Weile. Der Wirt, der einen eigenen Stempeldienst für den Jakobsweg betreibt, würde die beiden Arbeitslosen gerne für kleine Hilfsdienste einspannen. Geht aber nicht, weil sie sich dann finanziell schlechter stellen als ohne Arbeit. Auch die Sozialversorgung leidet unter ähnlichen Symptomen. Alle wissen darum, aber wenn der Staat den Übeln abhelfen will, dann geht alles auf die Straße, um im bekannten Unglück zu verbleiben. Der Glockenmann sagt, früher hätte man den Kram nicht gebraucht, man ging ins Spital und wurde gegen Naturalien versorgt. Das gemeinte Spital lag am Jakobsweg und wurde ehrenamtlich betrieben!
Mein Wein wird von den Männern übernommen, der Wirt möchte, dass ich noch einen Roussette de Frangy probiere, einen Wein, den ich mir recht gut zu Fisch vorstellen kann, nicht aber als autonomes Getränk.
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