neunundzwanzig - sechs
Es herrschen galizische Verhaeltnisse: Der Himmel haengt voll schwerer Wolken, es koennte auch jederzeit regnen, aber durch irgendein Loch findet die Sonne einen Weg und taucht alles in ein daemmrig-schoenes Licht. Der einzige Fussweg, den man nach draussen gehen moechte ist der zum Zapfhahn einer Bar.
Ihr ratet richtig! Ich bin am vorletzten Etappenort, in Arca angekommen. Der Ort heisst politisch O Pino oder frueher noch Pedrouzo. Hier ist Feiertag und ruhiger als gestern. Dennoch sehe ich Leute, die schwarz am Neubau arbeiten und Fliessen verlegen. Einkaufen geht nicht, kein Kaese, kein Wein!
Am Morgen gibt es keinen Gottesdienst in der kleinen Kirche San Verísimo de Ferreiros. Drum herum ist Friedhof, mehrstoeckig und, viel aelter, Grab an Grab flach im Boden. Ein schoener Platz zum Feiern nebenan. Mit einem Hochkreuz aus dem 17. Jh. (Der Mutter Gottes, Ruecken an Ruecken mit dem Gekreuzigten, hat der Bildhauer ein riesiges Schwert ins Herz gerammt), einer Tribuene und einem dramatisch platzierten Brunnen. Feste fuer Leben und Tod, alles geordnet beieinander.
Ein Mann um die 60 ueberholt mich. Er schiebt einen 6-raedrigen HighTech-Karren vor sich her und rennt nach Salzmann- oder Brieftraeger-Art mit grossen Schritten. Hier geht das. Der oesterreichische Dieter hat den seinen geschleppt. Wenig spaeter macht er Pause. Ich kann sehen, dass er noch einen Rucksack traegt, was mir vor lauter Verblueffung nicht aufgefallen war. Er ist Schweizer. Haette ich mir denken choennen. Er kann das nicht anders. Er braucht viel Zeug, vieles, was niemand braucht. Der Gedanke, etwas zu brauchen und nicht dabei zu haben, ist ihm nicht ertraeglich. Angst, dass ihm etwas geschdoolen wird, hat er nicht. Der Alu-Karren faellt auf und bis sich jemand darin orientiert hat, ist er entdeckt. Ausserdem muss man das Ding auch beherrschen. In Frankreich waere er damit grandios gescheitert. Hier sind die Wege ja fast luxuriös breit. Das ist auch nötig, denn der Strom der Pilger ist angeschwollen. Ich werde ständig überholt, aber ich überhole auch selbst(!). Meist Leute, die nur noch kriechen können. Ein Paar um die 40 aus Wales geht ganz langsam, er ein zwei-Meter-Mann mit einem schmerzenden Fussgelenk. Ich habe Gelegenheit zu fragen, ob ich helfen kann, als er am Wegrand sitzt und sich den rechten Schuh ausgezogen hat. Während ich sein Gelenk mit Aloe-Vera-Gel sanft einreibe, und die Schwellung verblüffend schnell zurückgeht, erfahre ich, dass sie sich scheiden lassen wollen und diese Reise der letzte Versuch sei, etwas gemeinsam zu unternehmen. Ich gebe ihm noch eine Schmerztablette, die er gehorsam schluckt. Sie sagt mir zum Schluss in gutem Deutsch, nichts gehe ihm schnell genug. Alles ist besser, wenn man dabei überlegt, welches die richtige Geschwindigkeit sei. Alles ist offen.
Vielleicht gibt man in der Übung des Gehens und des Pilgerns dem Körper ein gut Teil seiner animalischen Intelligenz zurück. Der zivilisierte Stadtmensch tut alles, um Stolperkanten aller Art zu beseitigen. Modebewusste Frauen kritisieren eine neue Bepflasterung, wenn sie nicht stöckelschuhbewusst ausgeführt ist. An die Eisenbeschläge erinnert sich kaum jemand mehr. Die Vielgestaltigkeit der Wanderstrecken trainiert den Bewegungsmechanismus auf Variabilität hin. Kurz: Man hebt den Fuß etwas höher! Das bedeutet Befreiung für den denkenden Kopf, dessen Augen jetzt freier und in anderem Winkel in die Welt schauen kann.
"De nuevo" kann man sagen, wenn man sich nicht staendig buen camino sagen will, das heisst dann soviel wie "gilt immer noch!" Bei Ras im Wirtshaus kommt eine Frau herein. Sie bittet um die Speisekarte und liest lange an der Theke stehend darin. Dann bestellt sie eine Portion Pommes Frites und Wasser. Der Barmann fragt, ob sie Brot dazu haben will. Sie bejaht. Meinen Kulturschock hat sie offenbar bemerkt. Als sie mich spaeter zum wievielten Male ueberholt, erklaert sie in mir gut verstaendlichem Spanisch, dass die Fritten am Weg wirklich zuverlaessig gut seien. Das ganze Zeug mit Tintenfisch und Innereien ist nur was fuer Spezialisten. Ausserdem bringt das Denken an die Variationen des Essens den Fluss der Fantasie durcheinander. Ich stelle fest, dass ich, ausser wenn der Magen vernehmbar knurrt, seit Wochen ueberhaupt nicht ans Essen denke. Tatsaechlich habe ich unterwegs viele Romane entworfen und meine Beobachtungen in Geschichten eingebaut. Wenn ich das nicht mache, vergesse ich alles wieder ziemlich schnell.
In dieser Pension gibt es heute nichts mehr zu essen. Ich werde noch mal einen naechtlichen Marsch ins Staedtchen machen.
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