Dienstag, 16. Juni 2009

Von Estaing nach Massip (Golinhac)

zwölf – sechs zwei, Freitag

Noch im Office de Tourisme habe ich mir meinen Seppl-Hut aufgesetzt, die Windjacke aufgemacht und bin aus dem Städtchen gezogen. Jenseits der Brücke ist mir schon so warm, dass ich den triumphalen Ausmarsch beende, die Jacke zusammenwickle und samt Hut an den Rucksack klemme. Vor mir liegen 14 Kilometer Fußmarsch, zunächst sehr angenehm auf Straße und Piste, mit Schatten aller Art. Recht schnell bin ich mit mir ganz alleine. Niemand will mich überholen, es gibt keine neid-erzeugenden Fahrzeuge, aber eine kräutersuchende Frau, die mich zunächst mit Madame anspricht, ehe sie mich geschlechtlich neu ordnet und sich aufwendig für den Irrtum entschuldigt.
Dann geht es steil ins Gebüsch. Und ich werde zunächst von einem dicklichen jungen Mann überholt, dann von einem ganz lieb dreinschauenden Iren mit sehr geringen Sprachkenntnissen, sodann von einem Oberfranken aus Hof, der schon seit Wochen geht. Er will sich mit seiner Frau in St. Jean-Pied-de-Port treffen. Das wird nicht gut gehen, meint er, weil er einfach viel zu schnell für sie sein wird. Er geht bis zu 45 Kilometer pro Tag! Ein TGV-Pärchen überholt mich. Niemand ist langsamer als ich. Der Schweiß rinnt mir sturzbachartig über die Brille, irgendwann gebe ich das Abtupfen auf und lasse laufen, was laufen muss. Ich berichte diese Dinge nur einmal, sie haben sich an den kommenden Tagen exakt wiederholt. Ich beobachte, wie meine Haare sich zu einer kleinen Schweißabtropf-Krone vereinigen und sich dazu meine Kleidung und Schuhe als Zielpunkte aussuchen. Die Tempotücher vereinigen sich in meinen Hosentaschen zu einer Knuddelbreimasse, die sich aber recht gut auseinandernehmen und in der Sonne schnell trocknen lässt. Obwohl: Nasse Tücher lassen sich kurz gepresst weiter in die Geographie werfen!

Das übliche voranschreitende Denken habe ich nahezu eingestellt, was bleibt ist so etwas wie: Der nächste Schritt ist der wichtigste, dazu die Wiederholung auf Endlosschleife, dann kommst Du irgendwie auch voran.

Zwischendurch kleine Pausen, in denen ich meine Flasche Badoit (Wasser mit Gas) nach und nach leer trinke. In meinem Führer steht, dass nach 8 KM am Wegesrand Trinkwasser zur Verfügung steht. Stimmt! Die Landschaft ist etwa genauso schön wie überall, der Wald ist grün und die Wiesen riechen, weil überall geschnitten wird, frisch und gesund. Es gibt viel Himmel und im Wald etwas weniger, wie bei uns auch. Das in der Landwirtschaft arbeitende Personal nimmt uns wohl eher wie Spaziergänger wahr, so als gäbe es zwei Tageszählungen. Für die einen ist es Werktag, für die anderen kein Werktag.
Kurz nach der Wasseraufnahme überholen mich zwei Paare, vielleicht etwas jünger als ich. Dann bleiben sie etwas stehen, diskutieren, ich kann aufschließen, dann werde ich gefragt, ob ich auch bis Massip gehe und was mir darüber bekannt sei. Dann: Wie viele Kilometer sind es noch? Kinder fragen nach einigen Minuten der Urlaubsreise danach. Dabei müssen die Menschen früherer Zeiten ja den Weg zurück auch noch miteinbeziehen. Selbst eine völlig platte Wüste liefert in der anderen Richtung neue Eindrücke. Und ich glaube, dass Eskimos mit weiten Schneeflächen die gleiche Erfahrung haben. Unser Einbahndenken beruht auf dem Irrtum, dass die Vermeidung von Wegesähnlichkeit in der Summe eher ein Gewinn an Information sei. Das ist aber nur eine Frage der Bewertung. Auch bei der Digitalisierung der Information halten wir einen Verlust an Auflösung für einen Gewinn, weil das Rauschen entfällt oder die Kopierqualität verbessert wird.
An einem Anstieg reißt die Verbindung zu den Paaren ab. Sie haben es etwas leichter, weil sie das Gepäck transportieren lassen und nur das Picknick mitführen. Das ist heute durchaus legitim, ein kleiner Wirtschaftszweig lebt ganz gut davon. Hier ist die Krise nicht angekommen.
Dann, wie aus dem Nichts, bin ich angekommen. Mein Name steht bereits auf der Tafel, im abgedunkelten Zimmer angekommen, höre ich eine Frauenstimme fragen: Do you snore? Wir sind zu dritt, zwei Frauen und ich. Dann berappelt sich die Lage, ich werde akzeptiert, was ich dankbar registriere. Stephanie (deutsch) und Suzan (Kanada), so um 45 herum, nehmen mich als Schlafes Partner an. Die Weltfrage reduziert sich auf: Snore ich oder snore ich nicht! Stephanie misst: Ich snore 2 Punkte auf einer Zehnerskala.
Das Essen wird in Gemeinschaft verzehrt, es ist vorzüglich. Danach nehmen wir ein Thema auf, das die beiden schon länger beschäftigt. Dazu die Geschichte: Eine kleine Schafherde weidet beim Bauernhof. Nah bei den Stallungen steht ein junges Schaf und blökt erbärmlich. Es kann jederzeit zur Herde, geht aber nicht hin. Von Seiten der Herde ist keine Reaktion bekannt. Was haben wir davon zu halten?
Die Nacht ist erholsam.

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